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Die Bienenkönigin

 
Der Holunder blühte früh in jenem Jahr. Seine hellen Dolden leuchteten in der Sonne, und an den dunkelgrünen Blättern haftete ein Gemisch aus Pollen und dem Staub, der vom verlassenen Steinbruch in der Nähe herüber geweht wurde. Täglich kamen wir her, und jedes Mal bog meine Mutter einen Zweig des Holunderstrauches nach unten, liess mich die sternförmigen Blüten betrachten und den Duft tief einatmen, den sie verströmten. Anschliessend tastete sie zwischen den Ästen nach der kleinen Baumscheibe, die an einem faserigen Stückchen Hanfseil nahe dem Stamm aufgehängt war, so behutsam, als könnte diese bei der geringsten Berührung zerbrechen oder verschwinden. Ich hatte ihr dabei zugesehen, wie sie mit den Aalen aus dem Werkzeugkoffer meines Vaters verschieden grosse Löcher in die Scheibe gebohrt hatte, und einige davon waren nun mit einer hellbraunen Masse verschlossen. Dort, in der schützenden Dunkelheit, lägen künftige Wildbienen, hatte meine Mutter mir zugeflüstert, noch nicht einmal geschlüpft, auf einem Bett aus Nektar und Blütenstaub, wo sie den Sommer und die langen Monate des kommenden Winters verbringen würden, wartend. 
Die Momente der Vertrautheit dort unter dem Holunderstrauch gehörten zu den wenigen, die ich meiner Mutter noch gewährte. Noch immer war sie diejenige, die mir abends Bruchstücke halb vergessener Lieder vorsang, mich auf der Schaukel anstiess, den Apfelkuchen für mich buk, den ich so mochte, doch in diese Bilder waren andere eingedrungen. Ich sah jetzt auch ihren schweren Körper, die Schweissflecken auf den Kleidern, ihre Atemlosigkeit. Wie die Leute auf sie zeigten, über die Verrückte lachten, die ihrem Mann heulend und keuchend bis zum Steinbruch nachgelaufen war, die Kleine auf den Armen, als er das Dorf und sie verlassen hatte. In Gegenwart dieser Leute liess ich die Hand meiner Mutter los, obwohl ich sie eigentlich umklammern wollte, stellte mich zu den andern Kindern und genoss die Süssigkeiten, die sie mit mir teilten, auch wenn sie einen bitteren Beigeschmack hatten, wie etwas Giftiges.
Bald würde meine Mutter sie nach Hause tragen. Die Baumscheibe. Ihren Talisman. Vielleicht würde das Holz noch etwas vom Duft des Holunders verbreiten, wenn sie es vorsichtig auf den Tisch in der Ecke legte, zwischen die Werkzeugkiste meines Vaters und mein altes, zerbrochenes Spielzeug. Sie würde über die Wildbienen wachen, Tag für Tag, ihnen leise davon erzählen, was sie erwartete, von der Sonne und den weiten Wiesen und den Gerüchen des Sommers. Wenn die Bienen dann geschlüpft wären, am Ende der kalten Monate, würde meine Mutter mit ihren unförmigen Fingern über die fein gezeichneten pelzigen Tiere streichen, das Fenster öffnen, die Wildbienen fortfliegen lassen und geduldig warten, bis sie sich erinnerten, an ihre Zeit dort in ihrer Höhle, die wispernde Stimme, die tastenden Hände, bis sie zurückkehrten, um in der Baumscheibe nun selbst ein Bett aus Nektar und Blütenstaub zu bereiten, und vielleicht würden mit den Bienen auch die Menschen zurückkehren, mein Vater vielleicht, oder ich, oder etwas ganz anderes, Verborgenes.


Obacht Kultur, 2011

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