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Der Molch

 
Jeden Morgen nach sechs Uhr brachen die beiden auf. Die Frau klickte die Leine aus weichem geflochtenen Leder ins Halsband des Hundes, der im Korridor vor der Haustür sass und wartete, zog eine leichte Jacke an und schloss hinter ihnen zu. Dann liefen sie durchs stille und leere Treppenhaus nach unten. Die Strassenlampen brannten, ihr Licht schimmerte auf dem feuchten Asphalt. Einige Busse waren bereits unterwegs, vereinzelte Fahrzeuge, andere Fussgänger. Nichts von alldem vermochte ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, in wortlosem Einvernehmen folgten die beiden ihrem gewohnten Weg, sie leicht hinkend wegen der Schmerzen im Knie, er in leichtfüssigem Trab. Bald gelangten sie aus der Stadt hinaus zum schmalen Wäldchen, das den Fluss säumte. Vom frühlingshaft dichten Blätterdach tropfte es, der Hund leckte Wasser aus Pfützen, und sie dachte daran, wie sie später vorsichtig die nassen Erdkrümel und verklebten Steinchen aus seinen Pfoten lösen würde. An anderen Tagen, wenn es heiss und trocken war, setzte sich Staub in seinem Fell fest, im Winter liess der Schnee es zottelig werden und schwer vor Nässe. Es machte keinen Unterschied für ihn, dachte sie, nicht wie für sie. Kälte und Nässe verstärkten die Schmerzen im Gelenk, sie nahm dann die kürzere Runde, ruhte sich auf Bänken aus. Es dauerte manchmal lange, bis sie wieder zu Hause waren, sie brauchte anschliessend Umschläge für ihr geschwollenes Knie.
Das zerfallene Gebäude hatte einst eine Fabrik beherbergt, das wusste sie. Im Dach fehlten einige Ziegel, die Fensterscheiben jedoch waren intakt und die Türen verschlossen, sie hatte es geprüft. Eine knorpelige Buche lehnte gegen die Seitenwand, die Äste wie in einer Umarmung um Dachrinne und Mauerfortsätze geschlungen. Im freiliegenden Wurzelstock nisteten manchmal Wasservögel. Am verbogenen Drahtzaun, der an manchen Stellen durchgerostet war, hatte der Hund sich einmal verletzt. Mit grosser Sorge hatte sie die Wunde gereinigt und eine Salbe aufgetragen, und erst nach einigen Tagen war die Entzündung zurückgegangen. Sie hatte kaum geschlafen in jener Zeit.
Wie jedes Mal umrundete der Hund das Haus, schnüffelte an Mauerecken, grub nach Mäusen und schnappte nach ihnen, wenn sie aufgeschreckt weghuschten. Sie liess ihn gewähren und unternahm selbst einen kurzen Gang um das Gebäude. Die Margeriten, am Vortag noch harte kleine Knospen, hatten sich geöffnet und zeigten die Spitzen der zarten weissen Blütenblätter. Bald würde sie einen Strauss davon pflücken und nach Hause tragen können. In einem Haselstrauch sass eine Amsel und pfiff ohne Unterlass, ein Eichhörnchen verschwand in der Krone eines Ahorns. Die Frau schloss für einen Moment die Augen. Der Fluss führte viel Wasser nach der Schneeschmelze, sie lauschte dem dumpfen Rauschen und empfand eine jähe Sehnsucht, die sie nicht benennen konnte.  Reglos verharrte sie. Erst als der Hund sie sacht mit der Schnauze anstiess, kehrte sie aus ihren Gedanken zurück.
Es gab einen Weiher, etwas weiter den Waldweg entlang. Tannzapfen trieben darin, Ästchen und Grashalme. Der Hund trank etwas von dem trüben Wasser, mehr aus Gewohnheit wahrscheinlich. Während sie auf dem Weg stehen blieb und auf ihn wartete, fiel ihr Blick auf das steinerne, quaderförmige Becken, das in der Nähe in den Boden eingelassen war. Wozu es diente, war ihr nicht klar, es war leer bis auf einige halb verrottete Blätter und etwas Regenwasser, das sich darin gesammelt hatte. Moos bedeckte die Seitenwände, die Ränder bröckelten. In einer Ecke bewegte sich auf einmal etwas. Sie ging näher heran, und da sah sie den Molch, der dort sass, jetzt wieder reglos. Sie wunderte sich, dass er sein Winterquartier bereits verlassen hatte, es war noch immer kühl, vor allem nachts. Dann begriff sie, dass er gefangen war. Er musste ins Becken gefallen sein, hatte vielleicht bereits den ganzen Winter dort verbracht und unter den Blättern Schutz gefunden. Sie schaute nach oben. Es gab keinen Baum in der Nähe, der im Sommer Schatten spenden und die Feuchtigkeit bewahren würde. Das Becken würde sich erhitzen, das Wasser verdunsten und der Molch bald verenden. Sie ging näher heran und betrachtete das Tier. Es war klein, nicht viel länger als ein Finger. An der Seite des Körpers war die dunkle Haut mit gelben Flecken überzogen, die Augen glänzten. Sie versuchte, sich hinzukauern, doch der Schmerz im Knie stach zu wie ein scharfes, heisses Messer. Sie schaute sich um, nicht sicher, wonach sie eigentlich suchte. Der Hund war noch immer beschäftigt mit seinen Erkundungen. Eifrig lief er am Ufer hin und her, tauchte die Schnauze ins Wasser, liess Tropfen durch die Luft spritzen. Sie wusste, dass sie ihn eigentlich an die Leine hätte nehmen müssen, es gab Wildtiere und andere Hunde, doch sie mochte es, ihn so frei umherlaufen zu sehen. Erneut wandte sie sich dem Molch zu. Aus der Tiefe des steinernen Beckens schien er zu ihr hochzublicken, in stiller Erwartung ihrer Hilfe. Sie würde etwas finden, sagte sie zu sich, einen Ast vielleicht, eine andere Möglichkeit fiel ihr nicht ein.
Als sie den Jungen sah, zögerte sie zuerst. Er musste in einem der Häuser wohnen, die direkt an den Wald angrenzten. Üblicherweise begegnete sie niemandem auf ihren Wanderungen, so früh war kaum jemand draussen im Wald, am Fluss. Dass sie den Jungen an genau diesem Morgen antraf, war eine glückliche Fügung, auf einmal wurde ihr das bewusst. Niemals hätte sie den Molch mit einem Ast aus dem Becken befreien können. Vielleicht hätte sie es dennoch nicht geschafft, den Jungen anzusprechen, doch der Hund kam ihr zu Hilfe. Er drückte sich gegen die Beine des Jungen, brachte ihn dazu, ihn zu streicheln und mit seinen weichen Ohren zu spielen. Da fiel es ihr auf einmal leicht, den Molch zu erwähnen. Bereitwilliger, als sie erwartet hätte, folgte der Junge ihr zurück zum Weiher. Sie zeigte ihm das Becken. Der Junge war klein genug, um hineinzusteigen und sich hinzukauern. Behutsam schob er den Molch auf seine Hand, kletterte hinaus und lief zum Ufer des Weihers, dort liess er ihn vorsichtig auf ein Stück Borke gleiten. Eine Weile standen sie da und schauten hinunter auf das kleine Tier.
"Es wird ihm gut gehen", sagte der Junge.
"Bestimmt", antwortete die Frau. "Bestimmt."
Der Junge strich noch einmal durch das Fell des Hundes, dann verschwand er in Richtung der Siedlung. Die Frau atmete tief ein und wieder aus. Als sie zum Weg zurückging und ihren Spaziergang fortsetzte, folgte der Hund ihr, ruhig und gelassen. Bald würden sie zu Hause sein.


Aarauer Neujahrsblätter, 2023

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