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KARIN RICHNER
Initiation
Die nächtliche Gegend, die er durchwanderte, veränderte sich auch nach Stunden kaum. Unberührt lagen die Ausläufer des nahen Gebirges vor ihm, Birkenwälder und Seen, von Schneewehen bedeckte weite Ebenen, schimmernd im Licht der Aurora Borealis. Menschen begegnete er nicht. Ab und an flatterte ein Vogel aus einem Gebüsch auf, Schatten von Wildtieren huschten zwischen den Stämmen umher. Das Heulen der Wölfe war niemals so nah, dass es ihm Unbehagen bereitet hätte.
Aus den Erzählungen der anderen wusste er, wonach er Ausschau halten musste. Als er das linsenförmige weisse Monument erblickte, höher als die umstehenden Bäume, aus sich selbst heraus leuchtend, erahnte er einmal mehr das Ausmass der Errungenschaften seiner unbekannten Vorfahren. Der Eindruck verstärkte sich noch, während er sich näherte. In der zunehmenden Helligkeit schien seine Umgebung immer unwirklicher zu werden, und auf einmal kam es ihm vor, als sähe er das alles zum ersten Mal: Die abblätternden Rindenstreifen, den schneebedeckten Boden, die dunkelroten Beeren an den Sträuchern, umschlossen von Eis, glitzernd und klar. Die letzten Schritte ging er langsam, andächtig. Mit den Handflächen erkundete er die Kühle und Vollkommenheit des Monumentes, die ungewohnte Beschaffenheit. Er umrundete es auf diese Weise einmal vollständig, dann setzte er sich. Ausser zu warten, blieb ihm vorläufig nichts zu tun.
Vor wenigen Tagen erst war seine Tochter geboren worden. Trug er sie bei sich, fühlte er ihr Herz schlagen, so viel schneller als sein eigenes, das aus seinem Körper heraus antwortete. Sie erkannte noch kaum etwas von der Welt um sie herum, und manchmal wünschte er ihr eine andere Zeit – die von Wundern erfüllte Vergangenheit, die nur durch einige Artefakte noch präsent war, oder eine freundlichere ferne Zukunft. Vielleicht aber hatte sie eine Aufgabe zu erfüllen; wer vermochte schon zu sagen, ob in der undurchschaubaren Verflechtung der Schicksale nicht gerade sie das entscheidende Element sein würde, welches die erhoffte Veränderung brachte.
Er erhob sich, sobald der erste Name erschien. Mehr und mehr leuchteten auf, bis die gesamte Oberfläche des Monumentes überzogen war, hunderte, tausende. Keiner wusste, was sie bedeuteten, wer diese Menschen gewesen waren; auch konnte niemand mehr sich daran erinnern, wie die Tradition ihren Anfang genommen hatte, die Kinder nach eben diesen zu benennen. Während er weiterschritt und las, fand er seinen eigenen Namen, denjenigen seiner Frau und vieler anderer, die er kannte, und er empfand, wie die Zeiten sich verbanden zu einem einzigen Moment. In Gedanken sah er seine Tochter vor sich, als Kind, als erwachsenen Menschen. Und dann, als die Schriftzüge allmählich wieder zu verblassen begannen, der Gegenwart ihren Raum zurückgaben, da schaute er auf einen Namen und wusste, dass er ihn gefunden hatte.
Bilgerverlag Zürich, 2020
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