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KARIN RICHNER
Die Farben jenes Herbstes
Es war an einem Montag.
Lange sass sie dort, die Gedanken immer dieselben, müde und leer nach einem Sommer, dessen allmähliche Auflösung in kühlen Abendstunden und sich vortastender Dunkelheit bereits begonnen hatte. Die Geräusche halfen. Eindringlich pfiff eine Amsel, ohne Antwort zu erhalten. Eine Säge schnitt durch Metall, gedämpft hinter geschlossenen Türen, dennoch schmerzte das Kreischen. Das Scheppern eines zufallenden Containerdeckels verhallte zwischen den Wänden. Steinchen knirschten unter dem Schritt eines Davoneilenden.
Trotz all dem kam es ihr still vor. Zu vieles fehlte.
Der Montag war weiss und grau wie die Mauern.
Es war an einem Dienstag.
In der kühlen Herbstluft fühlte sich alles unter ihren Fingern abweisend an, die rauen Mauersteine, das Metall eines Treppengeländers, die Türklinken, die Scheibe eines halb blinden Fensters. Sie folgte den Schienen im Asphalt, auf denen längst keine Züge mehr fuhren, und um den hohen Schlot aus rötlichen Steinen kreisten Vögel. Schwalben vielleicht, dachte sie und wusste nicht, ob das überhaupt möglich war, ob diese nicht längst aufgebrochen waren auf der Flucht vor der Kälte. Sie irrte weiter zwischen den Gebäuden umher, und der leere Raum hallte wider von einem dröhnenden Echo, das nur sie selbst hören konnte.
Da sah sie den Jungen zum ersten Mal.
Der Dienstag war dunkelblau, wie ein östlicher Himmel nach Sonnenuntergang.
Es war an einem Mittwoch.
Bereits war die Dämmerung hervorgekrochen. Aus einem Fenster hoch über ihr fiel Licht, doch sie glaubte nicht, dass sich noch jemand im Gebäude befand. Aus den Schatten wehte ein leichter Wind Herbstblätter in ihre Richtung. Einmal huschte ein Kater vorüber, ohne sich um ihr Zungenschnalzen zu kümmern. Sie wartete lange. Beinahe hätte sie aufgegeben, da stand er auf einmal vor ihr. Er musste etwa sieben Jahre alt sein, dachte sie und überlegte, wie ihr eigener Sohn in dem Alter ausgesehen hätte: Die Haut etwas heller, das Haar länger, der Ausdruck verträumter. Wie heisst du, fragte sie, doch der Junge zuckte nur die Schultern und entblösste lächelnd eine Zahnlücke. Als er seinerseits etwas fragte, in einer Sprache, die sie nicht verstand, war es an ihr, mit einer hilflosen Geste zu antworten.
Sie wusste nicht, wie die Augen ihres Sohnes ausgesehen hatten, die Lider waren geschlossen gewesen. Seine Zeit hatte nicht ausgereicht, um einen Blick auf diese Welt zu erhaschen.
Der Mittwoch war von einem verwaschenen Grün, als würde man alles durch eine Glasscherbe betrachten.
Es war an einem Donnerstag.
Durch den Jungen lernte sie, dass die Mauern im Areal nicht so unüberwindlich waren, wie sie gedacht hatte, dass es durchaus zugängliche Räume gab. Erst zögerte sie, schüttelte den Kopf, doch er nahm ihre Hand und führte sie durch eine unverschlossene Tür. Drinnen war es wärmer, und nach einer Weile entspannte sie sich. Ausser ihnen befand sich niemand hier.
Ins stille Zwielicht waren die Leben der Menschen verwoben, die sich hier tagsüber aufhielten, die Erinnerungen an sie gespeichert im Metall der Maschinen, im Geruch des frisch verarbeiteten Holzes, im Staub, den ihre eigenen Schritte und die des Jungen aufwirbelten, während sie sich leise und tastend vorwärts bewegten, wissensdurstig, zwei Wesen aus einer anderen Welt, und die Luft um sie herum vibrierte vom unhörbaren Nachhall der Stimmen der Arbeiter.
Mit ihrem Sohn war es ähnlich, dachte sie. Er selbst war nicht mehr da, doch etwas von ihm haftete an ihr, würde immer bleiben.
Der Donnerstag war von einem fahlen Weiss, wie Nebelschleier über einem herbstlichen Fluss.
Es war an einem Freitag.
Sie fanden einen Weg, sich zu verständigen. Mit einem abgebrochenen Ast zeichnete der Junge Spuren in die Erde, und vor seinen Füssen erschienen ein Hase, der an einem Löwenzahnblatt knabberte, ein Fahrrad, schliesslich ein Haus. Sie dachte, dass sie gerne darin gelebt hätte, es wirkte einladend, behütend. Der Junge machte einen Schritt zur Seite und zeichnete noch etwas, einen Teich mit einem schwimmenden Kind. Dann glättete er die Erde innerhalb des Teiches, das Kind verschwand, und sie begriff. Sie sah seinen Kampf vor sich, das Versinken, die letzten Luftblasen, die zur wieder unbewegten Wasseroberfläche strebten und dort zerplatzten, so leise trotz der Wucht des Augenblicks. Als sie selbst an der Reihe war, wusste sie auf einmal nicht mehr, was sie hatte zeichnen wollen. Stattdessen strich sie mit dem Ast nur die Erde um sich herum glatt, wie der Junge es in seinem Teich getan hatte, zupfte Gräser und Moos heraus, bis ein leerer Kreis entstanden war, in dessen Mitte sie stand. Der Junge nickte, ergriff einen Zipfel ihrer Jacke, zog sie hinaus.
Bestimmt, dachte sie später, hatte auch er eine Mutter zurückgelassen, einen Vater, Geschwister vielleicht, geisterte durch deren Träume genauso wie durch ihre Tage.
Der Freitag war quecksilbern, wie Wasser in der Sonne.
Es war an einem Samstag.
Der Junge erschien nun nicht mehr so oft. Sie sah ihn noch, meistens von ferne, wie er auf einmal zwischen zwei Containern auftauchte, ihr aus einem Fenster heraus zuwinkte, hinter einer Ecke verschwand. Einige Male setzte er sich zu ihr, doch sobald sie in seine Richtung blickte, zog er sich wieder zurück, und sie spürte, dass die Zeit zum Weitergehen gekommen war.
Sie dachte auch daran, wie sie sich das Leben ihres Sohnes vorgestellt hatte, ein Beginn, ein Abschied und dazwischen so viele Tage, doch am Ende war das alles eins gewesen.
Der Samstag war von einem klaren Blau, wie das Abbild des Himmels in einem Fenster.
Es war an einem Sonntag.
Sie blieb stehen, ausserhalb der Mauern. Der Junge war nicht mehr da, das wusste sie genau, und so fand sie es sinnlos, das Areal zu betreten. Sie erinnerte sich an sein stetes Lächeln und malte sich aus, wie er fortan auf ihren Sohn aufpassen würde.
Leises Rascheln im Wind. Ein Schatten im Licht der Strassenlampe.
Sie mochte die Farbe jenes Sonntags.
Industrial Radio, 2014
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