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KARIN RICHNER
nahaufnahmen.ch (2011)
von Christioph Aebi
In ihrem zweiten Roman „Sieben Jahre Schlaf“ beschreibt Karin Richner in leisen Tönen die Auswirkungen einer zerbrochenen Familienidylle auf die Ich-Erzählerin Lucie sowie deren Suche nach Geborgenheit und Identität. Wie schon in ihrem hochgelobten Debüt „Sind keine Seepferdchen“ gelingt der Aargauer Autorin wiederum die behutsame literarische Umsetzung eines schwierigen Themas: Mit eindringlichen Bildern, in einer stark verdichteten Sprache und anhand von fragmentarischen Rückblenden.
"So scharf ist die Landschaft auf einmal gezeichnet, dass mich das Gefühl befällt, ich könnte mich blutig schneiden an den Konturen der Rebstöcke, mit denen die steilen Hänge bepflanzt sind, der Zypressen mit ihren knorrigen Stämmen und Ästen, der weiten, violett leuchtenden Lavendelfelder, der Steinsplitter auf dem Asphalt.“ So nimmt die Ich-Erzählerin Lucie in Karin Richners neustem Roman „Sieben Jahre Schlaf“ die Umwelt durch die Autofenster wahr, während sie auf dem Weg nach Südfrankreich ist. Die einerseits idyllische und andererseits bedrohliche Landschaft ist symptomatisch für die Erinnerungen, welche Lucie immer wieder heimsuchen.
Fast zwanzig Jahre zuvor hat sie ihre Mutter zum letzten Mal gesehen. Ein Telefonanruf, ihre Mutter sei nach einem Gehirnschlag einseitig gelähmt, ist für Lucie Anlass, in das Dorf, in welchem sie ihre Kindheit verbracht hat, zurückzukehren. Nun kommen die Erinnerungen in Fragmenten zurück und „wie verschieden gefärbter Sand fliessen die Zeiten ineinander, bis alles eins wird.“ Lucies Mutter und Vater hatten im Dorf ein Café mit Gästezimmer gepachtet. Während der Vater abends seinem Hobby nachging, Pflanzen zu pressen, abzuzeichnen und zu aquarellieren, unternahm Lucie mit ihrer Mutter lange Spaziergänge. Doch die Idylle sollte nicht von Dauer sein. Als Lucie an einem Junisonntag von einem Besuch bei ihrer Schulfreundin Léonie zurückkam, ertappte sie ihre Mutter mit einem fremden Mann, wie sie sich gegenseitig über die Haare strichen und zärtlich die Hände ineinanderlegten. Die Mutter kam sodann nachts immer häufiger erst spät und nach Rauch riechend nach Hause. Mutter und Vater begannen, einen stummen Kampf auszufechten, der „die Luft in Schwingung“ versetzte und sich in Lucies Kopf „in ein schrilles Störgeräusch“ verwandelte. Bald darauf entschied sich ihr Vater, mit 40 noch ein Architekturstudium zu beginnen; die Mutter plante mit ihrem Freund eine längere Südostasienreise. Lucies Grossmutter Éstelle anerbot sich, ihr Enkelkind vorübergehend aufzunehmen.
Éwar jung schwanger geworden, stand ohne Ausbildung da und wurde von ihren Eltern gezwungen, ihr Kind, Lucies Mutter, zu Pflegeeltern zu geben. Erst am sechsten Geburtstag erfuhr Lucies Mutter davon. Das Kaleidoskop, welches sie als Geschenk erhielt und „die Bilder vor ihren Augen zu seltsamen Gefügen auseinandersplittern liess, in denen man das ursprüngliche Bild noch erkennen konnte, die aber keine Einheit mehr ergaben“, stellte die Vorgänge in ihrem Innern bildlich dar. Die Beziehung zwischen Éstelle und Lucies Mutter sollte zeitlebens distanziert bleiben. Darauf, ihr Enkelkind bei sich zu beherbergen, schien Éstelle lange gewartet zu haben. Aus ein paar Monaten wurden schliesslich sieben Jahre, während denen Lucie das Gefühl hatte, stumm und unbeweglich in einen Kokon eingewickelt zu sein. Éstelle gab ihr den neuen Namen Aline (welchen sie ursprünglich für Lucies Mutter bestimmt hatte), verschwieg Lucie die Anrufe des Vaters, warf die Postkarten der Mutter weg, hinderte Lucie mit stummen Blicken, weiterhin ihre Schulfreundin Léonie zu besuchen und hielt krampfhaft an der Illusion von Mutter und Tochter fest. Schlussendlich gelang es Lucie jedoch, den „Schlafkokon“ zu verlassen. Sie begann bei ihrer Mutter, die inzwischen wieder alleine war, im Café zu arbeiten. Lucies Wunschvorstellung nach einer wieder vereinten Familie sollte sich jedoch weder zu jenem Zeitpunkt noch zwanzig Jahre später erfüllen, als sie sich in Gedanken ausmalt, wie sie zusammen mit ihrem aus Bolivien angereisten Vater an Mutters Krankenbett sitzen und sich stundenlang mit ihnen unterhalten würde. Wie so oft in diesem tieftraurigen Roman stehen sich Realität und Wunschvorstellung scheinbar unvereinbar gegenüber.
Für ihren ersten, vor fünf Jahren erschienenen Roman „Sind keine Seepferdchen“, wurde die 1980 geborene, als Lehrerin arbeitende Karin Richner von der Presse als „neuer Stern am Schweizer Literaturhimmel“ gefeiert. Zu Recht. Die Stärken ihres Debütromans, in welchem es um den Umgang der Ich-Erzählerin mit dem Tod ihrer Schwester ging, finden sich auch in „Sieben Jahre Schlaf“: Die behutsame literarische Umsetzung eines schwierigen Themas in einer stark verdichteten Sprache, in welcher jedes Wort bewusst gesetzt scheint, und anhand von fragmentarischen, nicht chronologischen Rückblenden. Vieles wird ausgespart, muss sich der Leser oder die Leserin selber zusammenreimen. Auch bleiben die männlichen Figuren in „Sieben Jahre Schlaf“ eher schemenhaft, was jedoch die Beschreibung der drei Haupt-Protagonistinnen (Lucie, ihre Mutter sowie Éstelle) umso stärker hervortreten lässt. Stark sind ebenfalls die Bilder, die Karin Richner findet, um die Seelenzustände der Ich-Erzählerin zu beschreiben. „Ich will nicht alles erklären, was in den Figuren vorgeht, sondern lieber mit Bildern sprechen“, erzählte die Autorin anlässlich der Präsentation des Buches.
Beim Schreiben fasziniere sie „das Innenleben, das Seelenleben der Figuren“, ergänzte Karin Richner. In „Sieben Jahre Schlaf“ lotet sie die Beziehungen der drei Generationen vertretenden Protagonistinnen, die gegenseitige Beeinflussung der Lebensgeschichten sowie die noch Jahre nach einer Entscheidung bemerkbaren Folgen aus. Dies zeigt Richner anhand der Auswirkungen einer zerbrochenen Familienidylle auf. Die Ich-Erzählerin Lucie ist zeitlebens auf der Suche nach Geborgenheit und nach ihrer Identität. Sie stellt sich vor, wie es wäre, mit ihrer Schulfreundin Léonie die Familien zu tauschen, in einer heilen Familie zu leben. Später wird sich Lucie mithilfe diverser Namen verschiedene Identitäten zulegen, bis ihre Partner jeweils die Lügenkonstrukte aufdecken und sich aus dem Staub machen. „Sieben Jahre Schlaf“ ist ein Buch der leisen Töne, dessen Zauber sich erst bei mehrmaliger Lektüre vollends entfaltet. Über ihr nächstes Buch, an welchem sie momentan arbeitet, verrät die Autorin nur soviel: Das neue Werk werde ebenfalls wieder eine eher traurige Grundstimmung haben, aber erstmals schreibe sie in der dritten Person. Wie Karin Richner bekannte Stärken mit Neuem verknüpfen wird, darauf darf man gespannt sein.
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