top of page
KARIN RICHNER
Aargauer Zeitung (2021)
von Gallus Frei-Tomic
Wenn ein Baum von der Zukunft träumt: eine literarische Kostbarkeit
Die Aarauer Schriftstellerin Karin Richner erzählt in ihrem neuen Roman «Der Traum des Walnussbaums» 500 Jahre Menschheitsgeschichte. Dies tut sie nicht verklärt und übersinnlich entrückt, sondern sachlich.
Knackt man eine Walnuss, sieht das Innere einem Hirn sehr ähnlich; gespeicherte Zeit – gespeicherte Erinnerung. Karin Richner hat mit ihrem neuen Roman „Der Traum des Walnussbaums“ ein Buch über die Zeit geschrieben, über Erinnerungen, die mit ihr verblassen und entschwinden oder mit einem Mal wieder auftauchen. „Der Traum des Walnussbaums“ ist eine literarische Kostbarkeit, der ich jedes mögliche Podest wünsche!
Es hat acht Jahre gedauert, bis nun endlich ein neues Buch der Sprachkünstlerin meine Neugier stillt. Ein Buch, das trotz seiner Erzählspanne von fast 500 Jahren den Bogen in keiner Weise überspannt. Von 1874 bis 2351 erzählt Karin Richner von den Jahrringen einer um Dasein und Überleben kämpfenden Spezies. Ein Buch, das in sechs Kapiteln aus der Perspektive sechs verschiedener Menschen von dem erzählt, was wir in unserem Alltag viel zu leichtsinnig in Stein gemeisselt sehen; eine Welt, die wir zu kennen glauben, eine Welt, die immer so bleiben wird und muss, wie sie sich aktuell zeigt oder wie wir mit Bedacht einzublenden versuchen. Dabei ist nichts, wie es ist, weder die Gegenwart so, wie sie sich uns zeigt, noch die Zukunft, wie die Gegenwart verspricht. Alles ist im Fluss und nichts und niemand kann vorhersagen, ob dieser mäandernde Fluss nicht plötzlich das Ufer aufbricht und einen ganz anderen Lauf nimmt.
"Der Traum des Walnussbaums" widerspiegelt etwas von dem, was passiert, wenn ich durch den nahen Wald meines Wohnorts spaziere, vorbei an all den knorrig alten Eichen, die schon so lange stehen und in ihren Jahrringen Dinge speichern, die längst jeder Erinnerung entglitten sind. Aber Karin Richner tut dies in keiner Weise in einer verklärten, übersinnlich entrückten Säuselei, sondern so wie in den drei Kapiteln vor der Gegenwart absolut sachlich und die Wirklichkeit respektierend, auch in den drei Kapiteln in der Zukunft. Einer Zukunft, die unseren Planeten im kommenden Jahrhundert in einen Krieg der Kontinente manövriert und „über die Erde fegt wie ein alles verschlingender Dämon“. Wie sich aus der verbrannten Erde erst mit den Jahrhunderten ganz langsam wieder scheues Leben hervorwagt und das, was von der Menschheit übrig geblieben ist, sich aus ihren unterirdischen Bunkern wieder hervortraut.
Karin Richners Roman ist keine Dystopie im eigentlichen Sinn, viel mehr ein Entdecker:innenroman, ein Abenteuerroman. Ein Roman, in dem jene Sorte Mensch die Hauptrolle spielt, die nicht an Macht und Reichtum interessiert ist, sondern die in erster Linie verstehen will. Die sich auf die Suche macht, die sich nicht in ein dumpfes Dahinvegetieren ergeben hat, die aufbrechen will, die weiss, dass es hinter allem etwas Anderes, Neues zu entdecken gibt.
Immer wieder ranken die Geschichten um das Leben in einer Universität, an den Orten, an denen Wissen und Erfahrung gespeichert ist, an denen Menschen forschen, festhalten und kombinieren, die zum Humus werden für all die Bäume, die in den Himmel wachsen sollen. Selbst die apokalyptischen Kriege der Zukunft werden diese Speicher der Erinnerungen nie ganz auslöschen können. Beschädigen leider schon, aber niemals dem menschlichen Hunger nach Erkenntnis entziehen.
Was mich neben Karin Richners erzählerischem Wagnis aber noch viel mehr überzeugt, bewegt und fasziniert, ist eine ausgereifte, farbige Sprache. Die satten Bilder, die Räume, die sie mit wenigen Sätzen zu erschaffen versteht. Die Nähe zu den Personen, obwohl sie sich auf ein halbes Dutzend Protagonist:innen konzentriert – auf nicht einmal 200 Seiten. Man liest dieses Buch mit hochgezogenen Brauen, klappt es am Schluss nicht einfach zu, sondern schliesst es ganz langsam, um mit allen Sinnen noch lange im Nachhall dieses Kunstwerks zu bleiben.
Und dann ist da noch das Buch als haptisches Objekt selbst. Der Verleger Ricco Bilger schafft es immer wieder meisterlich, jedem seiner Bücher jenes Gewand zu geben, das ihm entspricht. Als hätte er wirklich einen Finger mehr in seinem verlegerischen «Händchen».
Hätte ich einen roten Teppich; ich würde ihn vor der Autorin ausrollen!
bottom of page