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WOZ (2011) 
von Anna Wegelin

 
Eine junge Frau sehnt sich danach, mütterliche Liebe zu erfahren: Davon handelt Karin Richners zweiter Roman.

Lucie - ihr Name ist auch Aline, Vanessa, Laura oder Natascha – fährt nach über zwanzig Jahren erstmals wieder in das südfranzösische Dorf, in dem sie aufgewachsen ist. Denn ihre Mutter, die hier seit vielen Jahren ein Café führt, hat kürzlich einen Hirnschlag erlitten und liegt in einer nahegelegenen Klinik. Derweil Lucies Vater, der früher vor allem Pflanzen presste und Aquarelle malte, im fernen Bolivien einen Brückenbau überwacht.
Es ist ein flirrend heisser Sommer, die Zeit steht still, und im Dorf geht alles seinen gewohnten Gang. Lucie, das erzählende Ich in Karin Richners zweitem Roman, wandert gedanklich zurück in die Kindheit, die geprägt war vom einschneidenden Erlebnis, ihre Mutter in einer intimen Situation mit einem Liebhaber zu sehen. Diese «Mama» arbeitete immer viel und war nie für Lucie da, sodass diese Zuflucht bei ihrer Grossmutter Éstelle genommen hat, die in einer Parallelstrasse wohnt.
Auch Éstelle hat einen Verlust erfahren: Als junge alleinstehende Frau musste sie Lucies Mutter an Pflegeeltern weggeben. Éstelle ist ein genügsamer Mensch und gibt Lucie gerade das richtige Mass an Nestwärme: kocht Kakao für sie, erkundigt sich nach ihrem Wohlbefinden und berührt sie immer wieder sanft. Tochter und Grossmutter hegen und pflegen den Garten ihres zweistöckigen Häuschens, studieren dessen natürliche Pracht, ernten Gemüse und Früchte.
Alles 
stimmt hier, alles darum herum ist weit weg. «Ich hatte die Vorstellung, dass Traum und Wirklichkeit vertauscht waren», heisst es einmal lapidar. «Wenn ich morgens zu erwachen glaubte, fiel ich in Wahrheit in einen tiefen Schlaf und begann zu träumen.» Lucie stellt sich vor, dass Éstelle sie in einen «Kokon» einwickelt.
Karin Richner, Jahrgang 1980, beschreibt diese Sehnsucht zurück zum Anfang, zur Geburt, einerseits in impressionistischen Stimmungsbildern aus Licht, Farben, Düften und andererseits in einem Naturalismus, der jedes Detail registriert, damit ja alles erhalten bleibe. Doch der Traum ist nach sieben Jahren ausgeträumt: «Seit Monaten schon haben wir an dieser Vorstellung von Mutter und Tochter festgehalten, an dieser Illusion», schreibt Lucie in ihrem Seelenprotokoll.
Ein junges schwermütiges Ich, ein abwesendes Du und eine Familie, die nicht zusammen ist: Das sind die Eckpfeiler in Karin Richners zwei bisherigen, kammerspielartigen Werken (ihr Erstlingsroman «Sind keine Seepferdchen» erschien im Jahr 2006 mit sehr positiven Kritiken). Der Ernst der verhandelten Sache ist derart gross, dass die sprachlichen Bilder und Szenen manchmal forciert wirken – der kaltnasse Schweiss etwa, den Lucie bei der Rückkehr ins Dorf spürt; oder wenn sie beim Klinikbesuch in der Neugeborenenabteilung landet statt bei ihrer schwerkranken Mutter.
Am Ende ist Lucie zwar auf dem Weg, sich aus ihrem Kokon herauszuschälen. Doch die prägende Erfahrung des Liebesentzugs wird sie weiterhin mit sich tragen.

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