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KARIN RICHNER
Literarischer Monat (2011)
von Hartmut Vollmer
Lucie kehrt nach fast zwanzig Jahren zurück in ihre kleine südfranzösische Heimatstadt, wo ihre Mutter Aline einen Gehirnschlag erlitten hat. Den Aufenthalt am Ort ihrer Kindheit und Jugend empfindet die Ich-Erzählerin als «fremd und vertraut zugleich». Unaufhörlich wird sie von Erinnerungen bestürmt, von Erinnerungen an ihre Mutter, die ein Café geführt hat und immer öfter auf Reisen ging, so dass Lucie viel Zeit bei ihrer Grossmutter Éstelle verbrachte; an ihren Vater, der sich zunächst seinen botanischen Neigungen widmete, danach aber Architektur studierte und gegenwärtig als Brückenbauarchitekt in Bolivien tätig ist; an ihre Grossmutter, die sehr jung und unverheiratet Aline zur Welt gebracht und sie dann in die Obhut von Pflegeeltern gegeben hatte; an ihre Freundin Léonie und deren Freund Janosch, von dem Lucie schwanger wurde, das Kind allerdings durch eine Fehlgeburt verlor. Doch was ist Traum, was ist Wirklichkeit? Immer wieder wird die Ich-Erzählerin von Vorstellungen überwältigt, dass diese beiden Dimensionen vertauscht sind: «Wenn ich morgens zu erwachen glaubte, fiel ich in Wahrheit in einen tiefen Schlaf und begann zu träumen.» Lucie, die sich bereits im Prolog des Buches als Trägerin verschiedener Identitäten zeigt, imaginiert sich in die erinnerten Figuren und beschliesst den Roman mit der Vorstellung, nun selbst Mutter zu sein. So findet sie sich am Ende in jener Rolle und Identität wieder, die sie in der Erinnerung an ihre Mutter und Grossmutter vergegenwärtigt hat.
Mit impressionistischem Blick und einer subtilen erzählerischen Diktion versinnlicht Karin Richner den Besuch ihrer Protagonistin in der südlichen, fremd gewordenen Heimat und die von der Melancholie des vergangenen Lebens gezeichneten Wege durch die Innenwelt der Ich-Erzählerin. Fünf Jahre nach ihrem beachtlichen Romandebüt «Sind keine Seepferdchen» legt die Autorin einen bezaubernden kleinen Roman vor, der sprachbildreich von der Suche nach der verlorenen Zeit erzählt.
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