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Basler Zeitung (2013)
von Julia Stephan

 
Die Aargauerin Karin Richner schreibt im Roman «Echolot» über falsche Mutterliebe. Ein Buch über Verlustangst, daraus folgender Über-Behütung und Mechanismen, wie sich die eigenen Probleme auf die Kinder übertragen.

Mit einem Echolot bestimmen Seefahrer gewöhnlich die Gewässertiefe. Dass die Aargauer Autorin Karin Richner in ihrem Roman «Echolot» auch seelische Untiefen ausloten könnte, erscheint zunächst undenkbar. Dafür hat Richner den Mikrokosmos Familie, in dem ihre Romanwelt spielt, zu süss gebacken. Seite für Seite winken Kuchen, Hefeschnecken, Zuckerwatte, Schokokringel und Glace als universale Trostspender, geben Kindergeburtstage und Spielnachmittage den Tagesrhythmus vor.
Diese Verzuckerung ist keine literarische Geschmacksverirrung, sondern der verzweifelte Versuch einer Mutter, ihren Schmerz über den Verlust einer heilen Familienwelt zu betäuben. Dass Familienvater Nils eines Tages ohne Begründung fortging und seiner Partnerin eine rätselhafte Zeichnung von einer mit Wasser gefüllten Höhle hinterliess, ist schon einige Monate her. Seither hängt die Frage nach dem Warum unbeantwortet in der Luft.
Die Mutter und ihre kleinen Kinder Johanna und Ruben sprechen kaum darüber. Während der Vater sich in regelmässigen Abständen mit Briefen und Skizzen bei der Familie meldet – und Andeutungen von seiner baldigen Rückkehr macht –, zieht die geschrumpfte Familie in ein kleineres Haus und versucht Normalität zu leben.
Mit dieser Ausgangslage schafft Richner in ihrem Text von Anfang an ein grosses emotionales Vakuum: Über Gefühle sprechen weder Mutter noch Kinder, doch hinter jedem feingliedrigen Naturbild, jeder harmonischen Schilderung des Familienalltags – für beide hat Richner ein gutes Auge – steht der Abgrund.
Schnell wird klar, dass Nils schon mehrmals die Familie im Stich gelassen hat und dass sein starres grünes Glasauge in eine Vergangenheit blickt, die er vorm Leser und seiner Partnerin gut verborgen hält. Auch wird deutlich, dass die Protagonistin mit ihrer übersteigerten Mutterliebe lediglich ihre ins Existenzielle gesteigerte Verlustangst maskiert – womit wir beim Kernthema von Richners literarischem Schaffen angekommen wären.
Als die mittlerweile 33-Jährige und inzwischen in Rombach lebende Lehrerin vor sieben Jahren im Roman «Sind keine Seepferdchen» eine um ihre verstorbene Schwester trauernde Frau beschrieb, war man hingerissen vom märchenhaften Stil, der so perfekt zum filigranen Äusseren der Aargauer Debütantin passte. Kein Wunder, wurde Richner schweizweit als neue Stimme gehandelt.
Der Sogwirkung des Märchentons verfallen, übersahen viele, dass dem Roman die inhaltliche Dringlichkeit fehlte, die er suggerierte. Umso erfreulicher ist die Entwicklung, die Richner mit dem auf «Sieben Jahre Schlaf» (2011) folgenden Roman «Echolot» genommen hat. Denn die Art und Weise, wie Richner ihre Figuren nach dem Vorbild des Echolots langsam die dunklen Seelengründe abtasten lässt, rechtfertigt die zunächst banal erscheinenden Oberflächenschilderungen, aus denen Richner alles Negative, Dunkle verbannt hat.

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